Neue Technologien eröffnen neue Möglichkeiten, bergen großes Potenzial, gleichzeitig aber auch Risiken. Anders Indset ist einer der führenden Wirtschaftsphilosophen der Welt, berät internationale Unternehmen und politische Entscheidungsträger zu Technologiefragen. In seinem Buch „Quantenwirtschaft“ beschreibt er die seiner Meinung nach größten Herausforderungen, nämlich neue Regeln und Strukturen zu schaffen, die neuen Technologien wie Nanotechnologie und künstlicher Intelligenz gewachsen sind. Im gemeinsamen Interview gehen Anders Indset und Harald Reisinger der Frage nach, wie gut Europa dem rasanten, technologischen Fortschritt gewachsen ist und welche Aufgaben auf Europa zukommen werden.

Europa verschläft die Digitalisierung, ebenso den Technologiefortschritt in der Cybersicherheit. Was müsste Europa sofort in Angriff nehmen?

Anders Indet: Europa muss einen eigenen Weg finden. Es herrscht Vertrauen zwischen den Großmächten, wir haben Frieden, und die Tradition der „Weitsicht“ – aus dem Namen Europa – ist in unserer Geschichte zusammen mit dem philosophischen Denken tief verankert. Dort findet man womöglich einen eigenen Weg. Selbstverständlich geht es in vielen technologischen Bereichen darum, dranzubleiben und aufzuholen, doch in vielen Bereichen ist es schlicht unrealistisch zu glauben, dass Europa mithalten kann. In Sachen Quanten-Forschung und in der Wissenschaft des Bewusstseins ist Europa vorne mit dabei, technologisch gesehen wäre es also möglich, „die nächste Welle“ zu nehmen. Auch in Sachen Kryptowährungen und Blockchain gibt es in Europa durchaus spannende Ansätze. Aus meiner Sicht wäre das Vorantreiben der Quantenwirtschaft der richtige Ansatz. Europa als Gestalter eines neuen Betriebssystems für die Wirtschaft. Ein neues System, in dem alles singulär unendlich gedacht und genutzt wird (eine echte Kreislaufwirtschaft), sowie neue Wege zu gehen, z.B. in der Kapitalisierung von Vital-Energie. Wir brauchen global radikal neue Denkanstöße, warum sollte hier Europa nicht Vorreiter sein?

Harald Reisinger: Oft hilft ja die Sicht von außen: Der Digital Life Abroad Report, durchgeführt von InterNations, der Expats weltweit befragt hat, unterstreicht die Probleme, mit denen Europa in Sachen Digitalisierung konfrontiert ist. Denn Europa wird abgehängt, wenn es um Digitalisierung geht. Schon bei scheinbar banalen Problemen wie Internetgeschwindigkeit und Online-Services gerät Europa ins Hintertreffen. Bei der Digitalisierung hinken Politik und leider auch viele Unternehmen den rasanten Entwicklungen hinterher. In vielen Fällen allerdings mangelt es nicht an Strategien oder Förderungen von Forschung und Entwicklung, sondern das Problem ist vielmehr die schleppende Umsetzung der Ziele. Wir sehen das selbst tagtäglich bei vielen Unternehmen beim Thema Cybersecurity. Cybersicherheit wird prinzipiell als wichtig eingestuft, aber die Bedrohungslage wird oftmals falsch eingeschätzt. Aber Digitalisierung und Cybersecurity müssen heutzutage ganz oben auf der Agenda stehen.

Sind Unternehmen in Europa für künstliche Intelligenz gerüstet? Angeblich sind dafür 20 Milliarden an Unterstützung geplant?

Harald Reisinger: Es mangelt vor allem an drei Dingen: Geld, Daten und dem Vertrauen in den technischen Fortschritt. Asien investiert zwei- bis dreimal so viel in KI wie Europa. Nordamerika wiederum weit mehr als China und Japan. Und Peking hat sich vorgenommen, die USA bis 2030 als globale Nummer eins zu überrunden. Um da nicht den Anschluss zu versäumen, müssen enorme Summen in die Hand genommen werden und in Entwicklung investiert werden. Akzeptanz in der Bevölkerung und Vertrauen gehören natürlich auch zu den Grundlagen, um KI weiter voranzutreiben. Die Sicherheit, dass KI nicht Tausende Arbeitsplätze vernichtet. Außerdem braucht es eine große Menge an Daten, ohne die maschinelles Lernen einfach nicht funktioniert, die Schaffung eines digitalen Binnenmarktes könnte da Abhilfe schaffen. Aber am Ende ist es wichtig festzuhalten, wir Menschen entscheiden darüber, wohin die Reise geht.

Daten sind das neue Öl. Wie groß ist die Gefahr, dass wir unter die Räder kommen und von einer digitalen Diktatur gesteuert werden?

Anders Indset: Wenn es in Zukunft überhaupt nicht mehr um Öl geht, mögen auch ganz andere Modelle der richtige Weg sein. Wir sollten Respekt vor der Technologie haben, aber ob wir diktatorische Führungsstrukturen haben wollen, müssen wir ernsthaft hinterfragen. Wenn die Antwort nein ist, dann müssen wir den Algorithmokratien und den autoritären Führern der Welt etwas entgegenhalten. Wir brauchen einen europäischen Weg. Heute wird versucht, Wandel in alten Strukturen durchzuführen; dies gelingt selten, oder wenn, dann ist es meistens viel zu langsam. Wir brauchen ganz neue Modelle – so wären etwa Formen der Direkt-Demokratie gepaart mit einer echten Aufklärung ein Start. Digital-Diktatoren sind auch Produkte der Algorithmen, und mit KI wird die Macht eines Führers durch Zugang, Verarbeitung und Distribution von Informationen zunächst noch stärker. Wenn wir diese Mechanismen und Gefahren – wenn wir sie als solche bezeichnen – erkennen, dann können und müssen wir handeln. Heute wird aber in erster Linie viel geredet. Sicherlich ist die Antwort auf einen „Riesen-Pac-Man“ nicht unsere Suche in alten Modellen und Anpassungen von innen, sondern radikal neue Denkanstöße, die wir auch in der Praxis testen müssen.

Harald Reisinger: China ist in diesem Bereich sicher eine mahnende Abschreckung mit seinem „Sozialkreditsystem“ und der damit verbundenen lückenlosen Überwachung der Bürger und einer Bestrafung für unerwünschtes Verhalten. Auch das angekündigte chinesische Bewertungssystem für Firmen hätte das Potenzial über Leben oder Tod von Firmen zu entscheiden. Aus diesen Gründen muss es ein Gegengewicht dazu geben, wie man verantwortungsbewusst und transparent mit Daten umgehen kann. Daten sollen genutzt werden, um Menschen zu helfen, nicht sie zu kontrollieren. Technologie soll unsere Lebensqualität steigern und nicht negativ beeinflussen. Da sind wiederum wir alle gefordert. Nicht Technologie regelt, wie Daten und Algorithmen eingesetzt werden, sondern das machen wir Menschen.

Autorität wandert von uns Menschen zu Algorithmen – wie können wir uns dagegen schützen und welche Wege müssen in der Bildung eingeschlagen werden?

Harald Reisinger: Algorithmen alleine sind keine Heilsbringer. Wir müssen wissen, wie und in welchen Bereichen diese eingesetzt werden. Dafür braucht es Transparenz und Aufklärung, was mit Daten passiert. Niemand in Europa will eine Totalüberwachung. Digitale Transformation muss definitiv auch in den Schulklassen ankommen. Aber da muss es auch Raum geben, Entwicklungen kritisch zu betrachten, speziell im Hinblick auf Demokratie und Menschlichkeit. Eben all das, was Maschinen und Daten nicht können. Digitale Hilfsmittel können Schüler optimal beim Lernen unterstützen. Neben Didaktik und Methodik müssen aber auch Themen und Inhalte behandelt werden, wie zum Beispiel Datenmündigkeit und zu wissen, was passiert mit personenbezogenen Daten. Diese Inhalte müssen auch in Schulen ankommen und thematisiert werden. Digitalkompetenz sollte oberste Priorität haben.

Anders Indset: Eine durch Algorithmen gesteuerte Wissensgesellschaft klingt zunächst gut in der Bekämpfung von Fake-News & Co. Was wir aber brauchen ist eine Gesellschaft des Verstandes. Wir müssen ein höheres Verständnis für die Implikationen und die Veränderungen entwickeln. Dies erfordert eine echte Aufklärung und eine Bewusstseinsrevolution. In Sachen Bildung brauchen wir Modelle mit praktischer anwendbarer Philosophie als Grundlage. Wir brauchen auch Zeit zum Denken – jeder sollte 1-2 Denkstunden als Regeltermin pro Woche in seinem Kalender einplanen. Für Europa sehe ich eine konkrete Problemstellung in der Kommunikation. Jeder EU-Staat sollte eine gemeinsame Sprache als Erstsprache in den Schulen haben. Sicherlich ist dafür Englisch naheliegend. Wichtig ist jedoch, dass wir miteinander auf EU-Ebene irgendwann – mit allen Facetten – über wichtige Themen kommunizieren können. Dies ist heute nicht gegeben. Wenn wir uns die Englisch-Kenntnisse von Nationen wie Frankreich und Italien anschauen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir nicht noch mehr zusammenrücken. Sprache ist ein bindender Faktor und sollte die Grundlage für Wirtschaft und Politik sein, dies kann ausschließlich über konkrete Maßnahmen in der Bildung gelingen.

Im Industriebereich und bei kritischen Infrastrukturen spielt Cybersecurity mittlerweile auch eine wichtige Rolle. Wie steht es um die Sicherheit in diesen Bereichen?

Harald Reisinger: Die Konvergenz von Operational Technology und IT erhöht das Risiko von Angriffen. Die ursprünglich geschlossenen Systeme der OT, dessen Industrie- und Produktionsanlagen, wurden geöffnet und an die übrigen IT-Systeme angebunden. Aus diesem Grund herrschen in OT-Systemen oft andere, meist rein physikalische Sicherheitsstandards. Bislang war es wichtig, dass die Maschinen und Geräte reibungslos laufen. IT- und OT-Sicherheit muss nun ganzheitlich aufgestellt werden, dazu gehört vor allem auch kontinuierliches IT- und OT-Security Monitoring. Denn es gibt zahlreiche Einfallstore für Angreifer.

Wieviel Regulierung ist mit der Frage der Ethik verbunden oder braucht es eine Weltethik der Digitalisierung, so wie es der Dalai Lama in Bezug auf die Weltreligionen fordert?

Anders Indset: Natürlich brauchen wir eine gemeinsame Basis. In Sachen exponentieller Technologien, wo es klare „Winner-Takes-All“-Szenarien gibt, wie beispielsweise in KI, Bio- und Nano-Tech, kann dies nur auf globaler Ebene gelöst werden. Wenn die Technologien jetzt schmelzen und die „Up-Side“ so hoch ist, dann brauchen wir neue Institutionen und neue Rahmenbedingungen, die für alle gleich sind.

Ethik muss aber auch (welt-)gesellschaftlich disjunkt von regionalen oder nationalstaatlichen Initiativen angegangen werden. Auch hier gilt es, ein höheres Verständnis zu entwickeln, eine Bewusstseinsrevolution voranzutreiben und an unsere Vernunft zu appellieren. Philosophen schreiben Bücher, praktische Philosophie verändert die Welt.

In deinem Bestseller „Quantenwirtschaft“ wird der Frage nachgegangen, was kommt nach der Digitalisierung? Expect the Unexpected?

Anders Indset: Eine Vision für Europa wäre aus meiner Sicht, dass wir zum Gestalter des Wandels werden: im Aufbau des neuen Betriebssystems der „Quantenwirtschaft“. Dass es in Europa gelingt, über Branchen und Bereiche hinaus in einer einheitlichen Sprache zu kommunizieren und eine Brücke zwischen Ost und West zu bauen. Dass wir die Schätze der Vergangenheit von den großartigen Vordenkern retten und auf das 21.Jahrhundert projizieren. Dass wir die Philosophie mit der zukünftigen Wissenschaft und Technologie paaren und uns getrauen, in den Leerräumen zwischen den Disziplinen nach „Wildem Wissen“ – das unbekannte Unbekannte – zu schauen. Als konkreten Impuls wünsche ich mir Europa als Exporteur von Vertrauen, Climate-Take-Back-Technologien und im Aufbau echter kreislaufwirtschaftlicher Technologien und Modelle.

Harald Reisinger: Der globale, digitale Innovationswettlauf wird weiter gehen – mit oder ohne Europa. Darum müssen wir unsere Hausaufgaben machen. Das bedeutet, Digitalisierung vorantreiben und vor allem sicherstellen, dass dies in unserem Sinne geschieht. Und Europa muss jetzt Antworten auf aktuelle Herausforderungen finden und umsetzen, bevor wir uns der Zukunft widmen können.

Es braucht eine Vision der neuen europäischen Idee, eine digitale Strategie und vor allem ein Bekenntnis zu europäischen Technologien, um selbstbestimmt die Regeln der Zukunft aufzustellen. Mir liegt dabei am Herzen, europäische Innovationen in den Mittelpunkt dieser Zukunft zu stellen.

Anders Indset with crowd at conference

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